Roman Schnellbach
Wenn aus Schwachstellen Kraftfelder entstehen
Samstag 16.05.20
Ich hoffe ja, dass gestern ein paar Leute enttäuscht waren, dass ich nichts neues zu erzählen hatte.
Es war viel passiert, hätte genug Stoff gehabt. Aber ich hatte gestern Abend beim Essen ein langes Gespräch mit einer anderen Kämpferin hier und hab Zuhause dann noch lange telefoniert und erzählt. Eine Freundin, die ich schon sechs Jahre nicht gesehen hatte, rief mich an, meiner Oma (95) wollte ich auch noch erzählen und mit meiner Frau hab ich auch noch gesprochen und dann war es 22:30 und dann war es mir einfach zu viel.
Dann hatte ich vorgestern von der Wunde, der aufgescheuerten Stelle am rechten Oberschenkel, erzählt. Die ist nicht groß, die heilt, das ist an sich kein großes Problem. Ich bin da auch nicht empfindlich.
Dennoch hab ich Freitag morgen daran ziemlich zu knabbern gehabt. Mir war zwar klar, dass irgendwann, irgendwas mit der Prothese passieren würde. Denn dass das nicht die Prothese sein würde, mit der ich wirklich laufe, das war mir klar.
Nur, gebrauchen konnte ich so eine Wunde jetzt auch nicht. Ich wollte trainieren, ich wollte laufen, ich wollte üben. Ich habe dann zu Amina gleich gesagt, dass ich heute nicht in den Lokomat ginge, weil ich mir nicht weitere 45 Minuten diese Wunde weiter aufreiben lassen will.
Daniela (Leitung / Physiotherapeutin) kam dazu und sagte: „doch, Du gehst schon in den Lokomat, aber ohne Prothese.“ Auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen. Und ja, ich war auch der erste 1.5-Beiner, der hier in einem der Lokomaten ging.
Hier wird einfach für alles eine kreative Lösung gesucht und gefunden. Geht nicht, gibts nicht. Das ist so unglaublich. Sie finden hier immer eine Lösung, Du musst Dich nur darauf einlassen. Also ging ich dennoch. Aber mit Tränen in den Augen, weil… ach da kommt dann ne Menge hoch.
Und danach kam aber eine Erleuchtung. Weil eben alles mindestens zwei Seiten hat.
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Jedes Ding hat drei Seiten:
Eine, die Du siehst,
Eine, die ich sehe,
Und eine, die wir beide nicht sehen.
Chinesisches Sprichwort.
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Und dann begannen wir einfach alle Übungen (außer Laufen) nur mit einem Bein zu machen. Das geht. Ich stehe, bin im Hochsitz und mache das Bankdrücken, das Kippen des Hockers, etc. einfach nur mit einem Bein. Und siehe da, es ergeben sich, auch für die Physiotherapeuten, faszinierende neue Erkenntnisse, die sie so weder gedacht noch je erlebt hatten. Die fanden das alle irre.
Denn plötzlich war die rechte Seite nicht mehr die, die die Hauptlast trug, sondern das linke Bein musste voll ran. Was so positiv war und ist. Glaubt mir. Ich war am Ende des Tages glücklich darüber, dass mir diese Wunde einen so wertvollen Tip gegeben hatte: kümmere Dich bitte mal auch um den Faulpelz links - ich habe keine Lust immer alles hier stemmen zu müssen - ich brauch mal ne Pause.
Und all die Details kann ich als Laie nicht so genau beschreiben. Aber die Hüfte reagiert rechts viel aktiver. Und wenn der Oberschenkel noch ein klein wenig Druck bekommt, aktiviert sich damit eine Hüftaufrichtung rechts, die automatisch eine Aktivität im Rumpf unten rechts nach sich zieht, was ja mein schwache Seite ist.
Das Wegfallen des Lastenträger rechts, führt also zu besserer Aktivität der Hüfte rechts, des Rumpfes rechts und der Aktivität im linken Bein.
Was für ein GEWINN!
Und nun hab ich mit Amina und Daniele geplant, dass wir, auch wenn wir die Prothese wieder passend haben werden (wir werden das Anfang der Woche lösen!), sicher mindestens die Hälfte der Zeit ohne Prothese trainieren werden, weil wir sonst die linke Seite auf Dauer nicht optimal trainieren würden.
Was für eine Erkenntnis.
