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  • AutorenbildRoman Schnellbach

Gedankenausflüge

Samstag 30.05.20

Es ist sehr leer geworden hier. Einig haben nach 6 oder 8 oder 12 Wochen oder noch länger, ihre Therapie diesen Freitag beendet und die Heimreise angetreten. Und die meisten anderen nutzen das lange Pfingstwochenende um in die Heimat zu fahren - manche haben es auch wirklich weit.


Ich wollte schon lange auch ein paar Zeilen über die anderen Mitkämpfer hier schreiben. Was ich von Anfang an hier so faszinierend fand, war der gemeinsame Wille, etwas erreichen zu wollen, der hier permanent spürbar ist. Wer hierher kommt, der will etwas. Und dieses aktive nach Vorne sehen, das nicht einfach hinnehmen, dass es bei dem Stand stehen bleibt, ist das gemeinsame Credo hier - zumindest empfinde ich es so.


Jeder hat seine Geschichte und jede Geschichte ist anders. Unfälle und OP-Fehler. Schlaganfälle oder Tumorerkrankungen, die alle, auf die eine oder andere Art, zu einer Lähmung führten. Und dass die Bewegung massiv eingeschränkt ist, ist das, was uns alle hier verbindet. Den einen mehr oder auffälliger, als den anderen. Mancher, der sich allein nur sehr wenig bewegen kann und fast permanent auf Hilfe angewiesen ist, bis zu Fällen, wie meinem (wobei ich auch dazu sagen muss, dass mir hier, meine lange Erfahrung von 26 Jahren auch zugute kommt), die doch nahezu komplett selbstständig sind. Ich sage bewusst fast, auch wenn ich mich total selbstständig fühle, weil ich eben im Supermarkt an manches im obersten Regal eben doch nicht hin komme - noch nicht.


Ein weiterer Punkt, der mich erstaunte ist, dass fast jeder, der mit einem Querschnitt hierher kommt, dieselben Erfahrungen aus den Unfallkliniken erzählt. Ich dachte, dass ich Pech hatte und durch die Situation damals und eine Menge von Faktoren, mich in Murnau einfach nicht wohl fühlte.

Aber hier höre ich durch die Bank die gleiche Geschichte. Die Aussage von Ärzten, nach wenigen Wochen, dass sich der Patient doch bitte darauf einstellen solle, beziehungsweise damit abfinden solle, dass er nie wieder wird laufen können. Selbst bei Patienten, bei denen sich nach ein paar Wochen eine minimale Bewegung in einem große Zeh wieder einstellte, kam es dennoch schnell zur Aussage „finden Sie sich damit ab, das war es jetzt.“ Und dann folgt ein weiterer Punkt, der sich bei einer Reihe von Geschichten für mich wiederholt. Diejenige, die wie auch ich, sich damit nicht abfinden und den Ärzten widersprechen und davon erzählen, dass sie das so nicht schlucken sondern sich aktiv auf die Suche nach Alternativen begeben, werden von Medizinern zum Teil direkt ausgelacht. „Wie, sie wollen so viel Geld ausgeben, für eine Therapie, die ohnehin nichts bringen wird?“

Ganz ehrlich, ich empfand es immer schon, und jetzt noch mehr, als eine Unverschämtheit und bodenlose Frechheit, was dadurch mit dem Willen von Menschen gemacht wird. Woher nehmen sich diese Ärzte denn das Recht heraus, einem Menschen zu sagen, dass sie sich ihre Wünsche sonst wohin stecken können?

Ja, es mag ja aus ihrer statistischen Erfahrung richtig sein, dass bei 90% der Patienten sich nichts mehr signifikant verbessert, bei denen sich nicht innerhalb der ersten x Wochen, spürbare Verbesserungen der Mobilität wieder eingestellt haben. Klar, aber das rührt wohl auch mit daher, dass die Schulmedizin, auch um Geld zu sparen, eben nur bei denen aktiv noch Therapien unterstützt, die eben schon von sich aus diese Aktivitäten aufweisen. Und dann sagt man halt solche Dummheiten, wie - das wird eh nichts mehr, finden sie sich damit ab.

Aber wenn Ärzte, die solche Behauptungen in den Raum stellen, hier wären, und sehen würden, dass Patienten, mit Verletzungen der Halswirbelsäule, die anfangs nicht mal alleine atmen konnten, und denen man gesagt hatte, dass das nie wieder was werden würde - mit einem Stock wieder gehen und in der freien Hand ihr Tablett zum Tisch tragen? Ja, wacklig und nicht so ganz sicher - aber sie gehen. Den Arzt möchte ich sehen und ihn fragen, was denn jetzt hier so unmöglich ist? Nein, nicht jeder lernt das, das weiß auch ich. Da gehören sehr viele Bausteine zusammen. Schon klar. Aber wie viele Menschen würden ein unglaubliches Mehr an Lebensqualität erlangen können, an Selbstständigkeit, wenn sie von Anfang an aktiver unterstützt würden? Ich wette, es wäre jedem damit geholfen. Jeder, der wieder etwas dazu lernt, bekommt nicht nur physisch ein Plus an Qualität sondern auch psychisch. Wer denkt denn an all die belastenden Dinge, die uns Gelähmten noch mit dazu auf die Rechnung, durch so ein Ereignis, gepackt wurden? Wie viel psychischer Stress, Ängste, Schamgefühle und Komplexe entstehen auch durch diese Situation? Niemand spricht darüber, auch nicht in Kliniken, was denn nun aus dem sexuellen Leben werden wird oder werden kann. Behindert haben keinen Sex - ok Kinder, das bekommen wir technisch hin, aber Lust? Hä? Sie sind jetzt Rollstuhlfahrer, an Sex denken ist ab jetzt nicht mehr erlaubt. So fühlt sich das aber an. Total komisch. Und die Unterstützung, die uns weiterbringen könnte, wird nicht bezahlt, weil eben Krankenkassen sagen: bringt nix, weil Ärzte das so sagen und deshalb zahlen wir das nicht. Und nicht jeder hat das Glück für zwölf Wochen mehr als 50.000 € locker machen zu können? Heilige Scheiße - sorry, aber das ärgert mich maßlos.


Ich weiß, dass ich mich hier auf sehr dünnes Eis bewege aber ich stehe dazu: wieviel Geld wird für die Chemotherapie ausgegeben? Und wie viele Menschen haben Krebs? Das sind Unmengen mehr, als Menschen mit Querschnittslähmungen. Aber wir haben keine Lobby. Und an uns verdient man nichts. Die Pharma- und Medizinindustrie, die bei der Onkologie immer dick mit drin ist, die verdient da gut dran. Und bei uns Rollstuhlfahrern? Da wird schon geknausert, wenn man einen anständigen Rollstuhl will. Und wehe, man möchte für den Sport einen zweiten - gibt es seit Jahren nicht mehr - ist Privatvergnügen. Unterstützung fürs Auto, wenn man Erwerbsminderungsrente bezieht und nur noch für 450 € arbeitet? Gibt es nicht mehr, weil das nicht Arbeit ist, die wirkliche Arbeit ist, sondern nur ein Notnagel. Toll, das nächste Mal, werde ich dennoch wieder einen Antrag stellen und sie dann fragen, ob sie mich jeden morgen mit dem Krankentransport holen wollen und zur Arbeit oder Arzt oder Physiotherapie fahren? Das geht mehr ins Geld als der Zuschuss zum Auto.


Aber ich schweife ab.

Gut ist hier auch, dass man Tips von anderen bekommt, wie man gegenüber Behörden eben doch erfolgreich argumentieren und kämpfen kann. Immer dagegen sagte mir erst vor ein paar Tagen ein Mitkämpfer.


Noch mal zurück zu den Ärzten in den Unfallkliniken. Was hätten die denn verloren, wenn sie jedem mit auf den Weg geben würden, dass es sich immer lohnt zu kämpfen? Gar nichts. Sie müssten nur innerlich zugeben, dass sie keine Ahnung haben, wozu der Mensch in der Lage ist, wenn er einen Willen hat, ein Feuer in sich brennen hat und bereit ist an Fortschritte und die eigene Kraft zu glauben. Dass die Medizin ganz oft rein in der physischen, körperlichen Sichtweise verankert ist, ist sicher ein Problem dabei. Ohne den inneren, geistigen, emotionalen, gefühlten Willen wird es nie aktive körperlich Veränderung geben. Das ist meine Überzeugung. Ich lasse jedem auch eine andere Meinung. Aber für mich ist es so. Wir sind nicht nur der physische Körper. Unser Denken ist nicht materiell. Der Wille auch nicht. Und ohne diesen inneren Antrieb, geht vielleicht reines Überleben - aber nicht das aktive Umsetzen neuer Kräfte.


Ein Arzt hat mich einmal, mit einer völlig untypischen Aussage, überrascht. Das war aber der Einzige. Ein Neurologe, der mir sagte, dass ihn am allermeisten an der Neurologie und dem Gehirn fasziniere, dass man generell, praktisch Null Komma Null wisse und verstehe. Nur unendlich viele Dinge messen und beobachten könne… aber dann doch einfach nur am probieren sei, ob etwas hilft oder nicht. Und als Beispiel nannte er Epilepsie: ganz ähnliches Verletzungsmuster, nahezu identische Muster an Anfällen. Beim einen wirke ein Medikament, beim anderen überhaupt nicht. Und keiner wisse, warum. Try and error. Aber gerade diese Suche nach Lösungen fasziniere ihn. Das fand ich ehrlich.


Warum gibt man also nicht von Anfang an Patienten mit Lähmungen den Rat, nichts unversucht zu lassen und alles erdenkliche zu probiereb? Weil das Geld kosten würde und die Kassen das nicht bezahlen wollen? Ich weiß es nicht.


Was mich auch erschreckte, ist die Aussage von einigen Patienten hier in der Reha, die mir von ziemlich abschätzigen und herablassenden Äußerungen von Medizinern und Psychologen in Unfallkliniken erzählt haben. Warum ist das so? Warum fehlt da scheinbar oft genug die Empathie? In der Situation bräuchten sowohl Patienten, wie auch Angehörige allen Zuspruch, den es nur geben kann. Aber der bleibt oft komplett auf der Strecke. Kosten, Personalmangel?


Eine, zumindest für mich, denkbare Erklärung wäre folgende: Könnte es sein, dass Mediziner in Unfallkliniken täglich mit so massiven Verletzungen und auch permanent der Frage ums Überleben der Patienten gefordert und auch belastet sind, dass viele, die diesem Druck nicht standhalten, bald einen solchen Knochenjob wieder beenden? Dass diejenigen, die emotional agieren und reagieren, sich die Situation von Unfallopfern zu Herzen nehmen und gerne emphatisch mit ihnen umgehen möchten, spüren, dass dazu keine Zeit ist, dass sie sich viel zu viel von der Arbeit mit nach Hause nehmen? Dass sie dem emotionalen Druck nicht standhalten können und auch aus dem Grund nicht belastbar genug für diese Aufgabe sind? Dann bleiben die harten Jungs und Mädels übrig, die gelernt haben, emotional nicht viel an sich heran zu lassen. Würde erklären, warum unter ihnen eher Härte als Mitgefühl zum Ausdruck kommt.


Aber ich möchte hier dennoch eine Lanze für all die Ärzte in solchen Kliniken brechen. Denn sie verstehen ihr Handwerk und leisten jeden Tag mitunter Unglaubliches um Leben zu retten. Sie haben auch meines gerettet und ich bin ihnen dafür sehr dankbar. Die Unfallklinik ist keine Wohlfühloase. Das wird wohl nie so sein. Aber wenn es eine Abteilung in so einer Einrichtung gäbe, der sich mehr oder explizit um den Blick nach Vorn kümmern könnte, um das Entwickeln von Möglichkeiten und Veränderungen, die auch nicht mit der Schulmedizin konform sein müssten? Das wäre für mich ein schönes Bild, das etwas mehr Bewegung zuließe.


„Fang nie an aufzuhören, höre nie auf anzufangen“

Marcus Tullius Cicero 106 - 43 v. Christus

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